Anonyme Bewerbung – Pro und Contra

Anonyme Bewerbung

Der nächste Trend im Karrierebereich aus den USA dreht sich darum, dass sich keine personenbezogenen Daten in einer Bewerbung befinden sollen. Die Intention ist, dass man die Menschen dann rein nach fachlicher Qualifikation auswählt – also Ausbildung, Erfahrung, Weiterbildungen. Klingt eigentlich recht fair und sinnvoll.

Was spricht für anonyme Bewerbungen?
Es gibt theoretisch keine Diskriminierung bei der Durchsicht der Bewerbungsunterlagen. Weder Geschlecht, Familienstand, Herkunft, Alter, etc. finden Eingang in Lebenslauf oder Bewerbungsschreiben – sofern dann überhaupt noch ein solches verlangt wird. Alles was Rückschluss auf die Person und damit letztlich auf die Persönlichkeit zulässt, wird aufs Minimum reduziert. Der weiterführende Weg, der ohnehin schon von sehr großen Firmen gerne beschritten wird, ist die Nutzung von online-Formularen, wo bei manchen ebenfalls alles Persönliche ausgeklammert wird. Denn wenn ich nach Zielen frage, nach Werten, nach Einstellungen – kann ich mit hoher Wahrscheinlichkeit persönliche Merkmale wie Geschlecht, Alter, Herkunft etc. ableiten. Nur macht man bei diesen Ableitungen natürlich noch mehr Fehler, als wenn diese Informationen direkt angegeben sind. Klammert man alle personenbezogenen Daten aus, erhalten Menschen den Vorzug, die bereits gut für die offene Stelle qualifiziert sind, also die auf fachlicher Ebene naheliegenden Personalalternativen.

Anonyme Bewerbungen sind vor allem für jene Menschen von Vorteil, die es nicht schaffen ihre persönlichen Merkmale gut „rüberzubringen“ und aus dem Bereich kommen, der für die Stelle interessant ist. Wenn man im Alter etwas Negatives sieht, dann hilft es, wenn eine ältere Person das Alter nicht angeben muss. Beim Bewerbungsgespräch hat man dann zumindest eine kleine Chance die Leute davon zu überzeugen, dass man trotz höherem Alter geeignet ist. Das gilt allerdings auch für richtig gute Bewerbungen. Wenn für jemanden ein gewisser zeitlicher Geburtsbereich ein no-go ist, dann hilft das beste Schreiben nichts und auch das Bewerbungsgespräch endet in Wahrheit sobald sich die Leute sehen.

Es liegt letztlich weniger an den personenbezogenen Daten sondern an der fehlenden Fähigkeit sich selbst vernünftig und interessant anhand der Unterlagen zu präsentieren – woher soll man das auch können. Die Bewerbungsschreiben aus der Schule kann man in 99,9% der Fälle direkt in die Tonne werfen. Wirklich herausragendes Bewerben ist auch nicht wirklich einfach und gute professionelle Hilfe verkürzt den Schaffens- und Leidensweg.

Was spricht gegen anonyme Bewerbungen?
Dagegen spricht alles andere. So gibt es zahlreiche Menschen, für die wir durch Optimierung ihrer Unterlagen Chancen auf Berufswechsel, Branchenwechsel, etc. ermöglicht haben. Diese wären aber allein auf Basis ihrer fachlichen Qualifikation nie und nimmer eingeladen worden. Wir haben ihre Persönlichkeit ins Zentrum gestellt, teilweise ihre persönliche Historie und Motivationen. Wer fachlich nicht unter den Besten ist, hat nur die Chance über Motivation und Sympathie zu punkten. Die persönliche Ebene geht bei diesem Anonymisierungswahn total verloren. Hier erkennen wir die Entwicklung der letzten 10-20 Jahre. Alles wird auf Kennzahlen, Kompetenzprofile, analytische Strukturen, Intelligenzstrukturtestauswertungen, Psychologische Profile reduziert. In diesem Netz an Datenmustern bleibt durchaus einiges an Informationen hängen – keine Frage –, vieles geht aber verloren. Leider geht man aber oft des Wichtigsten verlustig.

Es gibt zwei zentrale Faktoren für Leistung: Wollen und Können.
Geht eines davon gegen Null, dann ist es echt schlecht. Jemand kann noch so viel fachliche Qualifikation und Kompetenz mitbringen. Wenn diese Person einfach nicht motiviert ist (weil sie sich auf die falschen Aufgaben bewirbt, im falschem Umfeld steckt,…) dann bringt mir die Qualifikation gar nichts. Wenn ich jemanden habe, der gar nichts kann aber total aktiv ist, dann muss ich immer den Trümmerhaufen zusammenräumen, den die Person dank ihrer Inkompetenz verursacht.

Ideal ist ein Mitarbeiter dann, wenn seine Motivation und seine Qualifikation auf hohem Niveau sind. Zur Qualifikation sind aber auch soziale Kompetenzen zu zählen. Wenn jemand nicht mit anderen Menschen zurecht kommt, dann kann eine Person mit tollem fachlichen Know-how nicht nur nichts für ein Team bringen sondern es sogar stören und die Gesamtleistung beeinträchtigen.

Eignung = Wollen x Können x Passung
Es geht nicht um gute oder schlechte Bewerber sondern primär darum, ob jemand für die Stelle mit all ihren fachlichen aber auch sozialen und persönlichen Anforderungen und zum Unternehmen selbst passt. Diese persönliche Eignung, dass man nicht nur fachlich gut ist sondern eine aktive, motivierte Person mit bestimmten Werten und Einstellungen ist, kann man eigentlich nur in einem Bewerbungsschreiben in Kombination mit einem speziell ausgerichteten Lebenslauf richtig gut herausarbeiten – was die meisten aber nicht machen. Es steht in den Ratgebern auch echt schlecht beschrieben oder gar nicht wie man hier vorgehen kann. Viele meinen das Alter wäre ein Problem. Überall hört man das. Ich sehe ständig Menschen über 50, die Jobs bekommen, weil wir herausarbeiten, dass sie nicht teuer sondern einfach wertvoll als Mitarbeiter sind. Diesen Wert muss ich dem Personalisten aber begreiflich machen und was diese Personen in den Jahren Ihrer Arbeitszeit gelernt haben, die Essenz ihrer besonderen Qualifikation, ist nicht tabellarisch darzustellen. Man kann dies auch nicht vermitteln ohne Rückschlüsse auf die Person zuzulassen. Richtig gut sind Bewerbungen ja dann, wenn wir die Person in den Unterlagen erfühlen können. Spannend ist oft das, was zwischen den Zeilen im Lebenslauf steht. Nicht nur, was jemand wann gemacht hat, sondern warum und was man dabei gelernt hat.

Wie will man überhaupt die Erfahrung rüberbringen, wenn man nicht die Zeit angeben darf, die man in bestimmten Bereichen gearbeitet hat. Jemand der Jahre zusammenzählen kann, der wird ziemlich genau auf das Alter des Bewerbers kommen – und schon haben wir ohnehin ein mögliches Diskriminierungskriterium. Wenn man die Jahre nicht angibt, dann kann man nicht einschätzen, wo die Bewerber wirklich langjährig Kompetenzen entwickelt haben.

Oftmals sind Unternehmen hochmotivierte, halbwegs gut qualifizierte Leute, die gut ins Team passen, lieber als die bestqualifizierten, die nur halb motiviert sind und nicht so recht reinpassen. Das ist vernünftig, da die hochmotivierte Person kein Problem haben wird sich die fehlenden Kompetenzen anzueignen. Wenn sie gut mit den Kollegen kann, helfen die auch gerne. Das Miteinander ist das Um und Auf. Aber viele Unternehmen untergraben diese Teamdynamiken, obwohl ich in den letzten Jahren immer wieder bei Unternehmensbegleitungen bewiesen habe, dass Organisationen wahnsinnig viel Potential genau dort liegen lassen und gewaltige Leistungen erbringen können, wenn sie die richtigen Leute richtig führen und entwickeln.

Viele Unternehmen stellen Individuen ein und dafür reicht diese anonyme und reduzierte Auswahllogik. Wer jedoch ein Team entwickeln will und die emergenten Phänomene von richtig guten Menschenkonstellationen nutzen will, der muss weit über diese rein formale Auswahlstruktur hinweggehen. Eine Reduzierung des Menschen auf seinen kurzfristigen Nutzen führt zu einer Verarmung der Kultur, der Führungsstärke, der Loyalität, der Belastbarkeit, der Innovationskraft, etc. Viele recht namhafte Unternehme zerstören sich Schritt für Schritt aktuell auf Grund dessen, dass sie diese Vorgänge und Zusammenhänge nicht verstehen.

Widerspruch zur Humangravitation, Evolution,…
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass es einfach urbiologische, evolutionäre Mechanismen sind, die man ausklammert, wenn man die persönliche Ebene kappt. Sympathie im Entscheidungsprozess ist nichts Negatives. Es müssen allerdings Menschen die Auswahl treffen, die selbst ein hohes Entwicklungsniveau haben, die ein Gefühl für die Werte und die “Chemie” im Unternehmen haben als auch Empathie besitzen – dann sagt ihnen ihr Bauchgefühl extrem viel über Ihr Gegenüber, viel mehr als jedes online-Formular ihnen sagen könnte. Es mutet ohnehin seltsam an, dass man die Auswahl von Mitarbeitern, dem mit Abstand kostbarsten Gut, oftmals reinen Theoretikern, jungen Akademikern und arbeitsfernen Leuten überlässt – wenn sie die Auswahl nicht sogar outgesourct wird. Für mich ein Irrsinn der edelsten Güte.

Die fachlichen Qualifikationen entsprechen in der Humangravitation den Attraktivitätsfaktoren. Aber die persönliche Sicht des Menschen und seine Werte betreffen die Ebene der Sympathie. Wenn eine Gruppe langfristig auf hohem Niveau funktionieren soll, dann ist die persönliche Ebene die entscheidende! Ob Menschen sich füreinander öffnen und interagieren wollen und können, entscheidet sich auf der sympathischen Ebene.

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